Veranstaltung: | JEF Bundeskongress 2024 |
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Antragsteller*in: | JEF NRW, JEF Hessen, JEF BaWü (dort beschlossen am: 28.09.2024) |
Status: | Geprüft |
Antragshistorie: | Version 8 |
IA20: IA11 (GA): Offene Grenzen statt Schlagbäume: Gegen die politische Instrumentalisierung von Schengen
Antragstext
Der 16. September 2024 markiert einen neuen Tiefpunkt der deutschen
Europapolitik. Mit der Einführung von Grenzkontrollen an sämtlichen deutschen
Außengrenzen greift die Bundesregierung die Freizügigkeit als eine der größten
Errungenschaften der Europäischen Union an.
Von Beginn an stand im Zentrum des im kommenden Jahr seit vierzig Jahren
geltenden Schengener Grenzkodexes der fundamentale Grundsatz, dass die
Freizügigkeit innerhalb der EU ein grundlegendes Prinzip darstellt, das nur in
Ausnahmefällen eingeschränkt werden darf. Grenzkontrollen an den EU-
Binnengrenzen sollten demnach lediglich als letztes Mittel in besonderen
Situationen eingesetzt werden.
Spätestens seit der sogenannten “Flüchtlingskrise” von 2015 ist dieser
Grundpfeiler jedoch durch das Vorgehen der Mitgliedstaaten nicht mehr
wiederzuerkennen: Unter Verweis auf immer neue Bedrohungslagen werden
Grenzkontrollen regelmäßig wieder eingeführt und verlängert. Auch wenn es im
Einzelfall durchaus legitime Gründe geben mag, so drängt sich doch in vielen
Fällen der Eindruck auf, dass gezielt nach Vorwänden gesucht wurde und wird, um
Grenzkontrollen zu rechtfertigen. Auch die im Zuge der COVID-19-Pandemie
umfassend erfolgten Schließungen der Binnengrenzen führten zu einer weiteren
Relativierung des Grundsatzes der offenen Grenzen und Freizügigkeit. Unter
anderem aufgrund dieser neuen Herausforderungen wurde im Mai 2024 der Schengener
Grenzkodex aktualisiert.
Wir beobachten, dass die Aktualisierung des Kodex aus dem Jahr 2024 nichts daran
ändert, dass es häufig an einer klaren Relation zwischen Anlass und Umfang der
Kontrollen sowie an einer fundierten Begründung des Bedarfs mangelt.
Diese Praxis steht im klaren Widerspruch zu den Bestimmungen des Kodexes, der
Grenzkontrollen nur „unter außergewöhnlichen Umständen“, als „letztes Mittel“
und nur in dem Maße erlaubt, wie es „zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung
unbedingt erforderlich ist“ (Art. 25 Abs. 1 und 2). Diese Vorgaben werden durch
die Mitgliedstaaten systematisch missachtet.
Spätestens seit dem 16. September 2024 reiht sich auch Deutschland ein in die
Staaten, die sowohl den Geist, als auch die rechtlichen Grenzen des Kodexes
systematisch missachten. Und das unter Applaus von Rechtsextremist:innen sowie
Populist:innen auf nationaler wie internationaler Ebene.
Angesichts dieser Entwicklungen und Trends, die wir jüngst vor allem – aber
nicht nur – in Deutschland beobachten, sind wir als Junge Europäische
Föderalist:innen Deutschland besorgt darüber, wie fahrlässig mit einer der
größten Errungenschaften Europas umgegangen wird. Wir nehmen nicht hin, dass der
Stellenwert des Schengener Grenzkodexes durch politische
Entscheidungsträger:innen zunehmend verwässert und zum politischen Spielball
gemacht wird!
Anknüpfend an unsere bereits 2016 gestartete Aktion #Don’tTouchMySchengen und
unsere Beschlüsse zur Stärkung des Schengenraums aus den Jahren 2016 und 2019
stellen wir mit aller Deutlichkeit fest:
Die in Deutschland angeordneten Grenzkontrollen sind populistische
Symbolpolitik. Derzeit dienen die Kontrollen an den Binnengrenzen –
insbesondere in Deutschland – dazu, den Anschein von Handlungsfähigkeit zu
wahren. Die Gewerkschaft der Polizei stellt selbst nach wenigen Tagen
frühzeitig als erstes Zwischenfazit fest, dass sie kaum ihre
vorprognostizierte Wirkung zeigen. Mit den Kontrollen oder Forderungen
nach ihnen will man dem gesellschaftlichen Druck nachgeben und politische
Forderungen kommunizieren, ohne aber inhaltliche Entscheidungen zu
treffen. Grenzkontrollen werden reflexartig und vorschnell als
vermeintliche Lösungen präsentiert, bloß um die öffentliche Meinung zu
beeinflussen und politische Mehrheiten zu sichern. Dass der
Bundesregierung als Antwort auf die Wahlergebnisse in Thüringen und
Sachsen im September 2024 nichts anderes einfiel, als der AfD
nachzueifern, betrachten wir als Kapitulation. Nicht nur verlieren die
proeuropäisch ausgerichteten und demokratischen Parteien sowie die von
ihnen getragenen Regierungen national wie international an
Glaubwürdigkeit, wenn sie populistische – nachweislich ineffektive –
Vorschläge übernehmen. Sie drohen auch im Kampf gegen antidemokratische
Kräfte zu unterliegen. Dies befeuert Spannungen und Ressentiments.
Die Einführung von Grenzkontrollen ist keine Kompensation für andere
politische Versäumnisse. Die Einführung von Grenzkontrollen und die
Forderung nach ihnen verschleiern die eigentlichen Probleme und
langjährigen politischen Versäumnisse. Die Entwicklung nachhaltiger und
ganzheitlicher Lösungen wird so verhindert. Grenzkontrollen dürfen nicht
eingeführt werden, um fehlende Ausstattung, Überforderung und mangelnde
Vorbereitung bei nationalen Behörden auszugleichen. Zudem darf dem
Versäumnis einer dringend notwendigen Erarbeitung und Vereinheitlichung
eines menschenwürdigen Asylsystems sowie der fehlenden politischen
Willenskraft hierfür nicht mit der vermeintlich wirksamen Symbolik der
Kontrolle von Binnengrenzen begegnet werden.
Die Bundesregierung muss alle Grenzkontrollen umgehend beenden. Sie hat
für die entstandenen Unstimmigkeiten bei unseren europäischen
Nachbarländern die Verantwortung zu übernehmen und jetzt wie zukünftig
jeden nationalen Alleingang in Bezug auf gesamteuropäische Angelegenheiten
zu unterlassen.
Bekenntnis zu offenen Grenzen. Die Bundesregierung muss sich
unmissverständlich und konsequent zur uneingeschränkten Freizügigkeit als
Grundpfeiler der Europäischen Union bekennen. Sie muss ihren
Koalitionsvertrag, in dem sie noch zum Ziel gesetzt hatte, die “Integrität
des Schengenraumes wiederherzustellen” und sich mit ihren europäischen
Partnern abzustimmen, umsetzen. Angesichts der Tatsache, dass in
Deutschland, aber auch in allen anderen Mitgliedstaaten, Grenzkontrollen
normalisiert und sogar als positiv angesehen werden, bedarf es einer
fundamentalen Neuausrichtung des Grundverständnisses von Grenzen und
Offenheit in Europa.
Bewahrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Bei jeder politischen und
verwaltungsinternen Entscheidung braucht es einen unumstößlichen
Ausgangspunkt: Grenzkontrollen müssen die Ausnahme bleiben und als solche
benannt werden.
Ausnahmegründe für Kontrollen dürfen nicht missbraucht werden. Die – auch
nach den kürzlichen Änderungen des Schengener Grenzkodex fortbestehenden –
vagen und weit gefassten Formulierungen der Ausnahmegründe für die
Einführung von Grenzkontrollen dürfen nicht für nationale Agenden
ausgenutzt werden. Ausnahmegründe für Grenzkontrollen dürfen nicht
vorschnell angenommen, überdehnt,pauschalisiert oder inflationär
angewendet werden. Beispielsweise einmal vorhandene sachlich gegebene
Gründe für die zeitlich eng begrenzte Einführung von Grenzkontrollen, etwa
die Olympischen Spiele in Paris, dürfen in der politischen Diskussion
nicht zum Anlass genommen werden, um eine Fortdauer oder Neueinführung von
Kontrollen zu fordern. Ein bloß abstraktes Gefährdungsrisiko rechtfertigt
weder kurz- noch langfristige Grenzkontrollen.
Die Anordnung von Grenzkontrollen durch Mitgliedsstaaten muss von einer
Genehmigung durch die Europäische Kommission abhängig gemacht werden. Die
aktuell bestehende bloße Mitteilungspflicht gegenüber der Kommission
ermöglicht nationalen Missbrauch. Es muss bereits vor der Einführung von
Grenzkontrollen objektiv überprüft werden, ob diese im Einklang mit
europäischen Recht stehen und tatsächlich gerechtfertigt sind.
Insbesondere stellt die Prüfung durch die Kommission als Hüterin der EU-
Verträge und neutrale Instanz sicher, dass Grenzkontrollen nicht für
nationale Agenden instrumentalisiert werden.
Konsequente und frühzeitige Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren.
Die Europäische Kommission muss im Fall der missbräuchlichen Anordnung von
Grenzkontrollen die darin liegende Verletzung der EU-Grundfreiheit der
Freizügigkeit konsequent verfolgen und den EuGH anrufen. Insbesondere darf
sie hierbei nicht davor zurückschrecken, sich in nationale
gesellschaftspolitische Debatten einzumischen.
Der geringe Stellenwert, den die Mitgliedstaaten und insbesondere jüngst auch
die Bundesregierung der Errungenschaft der offenen Grenzen beimessen, zeigt für
uns als Junge Europäische Föderalist:innen einmal mehr die Notwendigkeit der
Schaffung einer Europäischen Verfassung. Diese muss die Freizügigkeit als
elementares Grundrecht enthalten. Nur so würde der Freizügigkeit in Europa die
Bedeutung zukommen, die sie für jede:n einzelne:n in Europa tatsächlich bereits
aktuell hat. Denn unser Europa baut Brücken, keine Grenzzäune. Unser Europa
steht für Solidarität und Zusammenarbeit, für gemeinsame Lösungen statt
nationaler Alleingänge. Und: Unser Europa darf nicht die wildesten Träume von
Faschist:innen und Populisten wahr werden lassen.
Begründung
erfolgt mündlich