Veranstaltung: | JEF Bundeskongress 2024 |
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Antragsteller*in: | JEF Kreisverband Tübingen (dort beschlossen am: 06.08.2024) |
Status: | Geprüft |
Antragshistorie: | Version 3 |
IA14: Europas Nuklearer Schutzschirm
Antragstext
Mit Blick auf wachsende sicherheitspolitische Herausforderungen und
Unsicherheiten bekennen sich die JEF zur nuklearen Abschreckung und schlagen
dazu vor, auf Basis der französischen Atomwaffen einen Dialog über den Aufbau
eines nuklearen europäischen Schutzschirms zu beginnen. Dazu sollte klargestellt
werden, dass der Beistandsartikel der EU auch den möglichen Einsatz
französischer Nuklearwaffen einschließt.
Nukleare Abrüstung bleibt dabei auch weiterhin erklärtes Ziel der JEF. Als
Bewegung sehen wir den sinnvollsten Weg in multilateralen Abrüstungsgesprächen.
Jedoch besteht bis dahin die Notwendigkeit, die eigene Sicherheit durch nukleare
Abschreckung zu garantieren.
Als Europäische Föderalist:innen fordern wir, auf das Gesprächsangebot Macrons
einzugehen. In einer europäischen Debatte soll festgestellt werden welche Form
einer europäischen nuklearen Abschreckung von französischer Seite aus denkbar
ist. Eine Möglichkeit ist, dass Frankreich öffentlich erklärt, dass Artikel 42
Absatz 7 EUV, die Beistandsklausel des Lissabon Vertrages, auch den Einsatz
französischer Nuklearwaffen einschließt. Dadurch bekommt auch die EU eine
nukleare Komponente, wenn auch noch ohne gemeinsame Befehlsgewalt.
Des Weiteren sollte Deutschland sich dafür einsetzen, auch andere EU-Länder für
Gespräche zu diesem Thema zu gewinnen, wobei auch Fragen der finanziellen
Lastenteilung eines europäischen Nuklearschirm zu klären sind. Auch dem
Vereinigten Königreich sollte ein Angebot unterbreitet werden, an einer neuen
europäischen Nuklearstrategie mitzuwirken.
Stärkere Eigenverantwortung Europas soll dabei nicht gleichzeitig die Aufgabe
der nuklearen Teilhabe mit den USA bedeuten, sondern Europa weniger abhängig von
Entscheidungen in Washington machen. In diesem Sinne könnte Deutschland, als
Kompromiss zwischen den französischen Ambitionen und potentiellen
osteuropäischen Bedenken, versuchen, einen Beitritt Frankreichs in die Nukleare
Planungsgruppe (NPG) der NATO anzuregen. Dadurch wäre die europäische Dimension
der französischen nuklearen Abschreckung in die transatlantischen Strukturen
eingebunden. Dies wäre ein erster Schritt für die europäische Säule in der NATO.
Gleichzeitig bekennen wir uns als JEF weiter zur nuklearen Abrüstung,
unterstützen den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen und setzen uns
für die weltweite Abrüstung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen
ein. Allerdings sehen wir den einzig sinnvollen Weg für mehr Sicherheit und
weltweite Abrüstung in multilateralen Abrüstungsgesprächen und -verträgen und
sprechen uns klar gegen unilaterale Maßnahmen aus, die unsere Sicherheit
gefährden, aber anderen Nuklearmächten keine Anreize liefern, ebenfalls
abzurüsten.
Begründung
Während Nuklearwaffen seit dem Ende des Kalten Krieges stetig an Bedeutung
verloren haben,hat Russlands Krieg gegen die Ukraine ihnen zu einer Renaissance
verholfen und einen Anstoß zur Modernisierung der weltweiten Arsenale geliefert.
Europa darf dabei nicht nur zusehen, wie um es herum Fakten geschaffen werden.
Die wiederholt geäußerten russischen Drohungen eines Einsatzes nuklearer Waffen
unterstreichen, dass diese nicht allzu bald aus der Welt verschwinden werden und
sich auch Europa um nukleare Abschreckung bemühen muss. Die nukleare Teilhabe
mit den Vereinigten Staaten wird dabei weiterhin ein integraler Bestandteil der
europäischen Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie sein. Allerdings
vertrauen gegenwärtig die meisten europäischen Staaten ausschließlich auf die
USA, während eine mögliche Trump-Präsidentschaft die damit einhergehenden
Unsicherheiten mehr als verdeutlicht hat. Der französische Präsident Macron hat
seinen europäischen Partnern daher wiederholt einen strategischen Dialog über
die Rolle, die die französischen Nuklearstreitkräfte in der europäischen
Sicherheitspolitik spielen könnten, angeboten. Eine ernsthafte Reaktion blieb
bisher aus.
Und während der nuklearen Teilhabe mit den USA in der europäischen
Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie weiterhin eine äußerst große Bedeutung
eingeräumt wird, gibt es gute Gründe, für alternative oder ergänzende Optionen
offen zu bleiben.
Es stellt sich erstmal die Frage, ob ein amerikanischer Präsident bereit wäre,
die Vernichtung des eigenen Landes zu riskieren, um Europa zu schützen. Trump
hat dies bereits öffentlich in Zweifel gezogen und seine Drohungen, die
europäischen Partner im Stich zu lassen, haben nicht nur eine neue Debatte um
nukleare Abschreckung ausgelöst, sondern haben bereits jetzt der Glaubwürdigkeit
der Abschreckung durch die NATO schweren Schaden zugefügt. Sollte ein
potenzieller Angreifer zu dem Schluss kommen, dass die Vereinigten Staaten
Europa nicht beistehen würden, könnte das fatale Folgen haben.
Dazu kommt ein steigender innenpolitischer Druck auf alle US-Regierungen,
vornehmlich amerikanische Interessen zu vertreten. Ein Druck, dem sich selbst
der überzeugte Transatlantiker Joe Biden nicht entziehen kann. Und mit dem
zunehmenden Fokus der Vereinigten Staaten auf Ostasien und Pazifik wachsen auch
die Forderungen an Europa, die eigene Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen,
auch wenn Trump ein erneuter Einzug ins Weiße Haus nicht gelingt.
Zudem wird die Bedeutung der nuklearen Teilhabe mit den USA oft überschätzt. Es
ist wichtig zu beachten, dass sie primär einen symbolischen und
allianzpolitischen Wert hat, operativ aber weitestgehend zahnlos ist. Bei den in
Deutschland stationierten Nuklearwaffen handelt es sich um Schwerkraftbomben,
die von Flugzeugen abgeworfen werden müssten, was sich bei einer intakten
(russischen) Luftverteidigung schwierig bis unmöglich gestalten würde. Dies ist
auch Europas Gegnern bewusst und dementsprechend verringert ist die
abschreckende Wirkung der derzeit in Europa stationierten amerikanischen Waffen.
Stattdessen wären bei einer akuten nuklearen Eskalation nukleare Raketen und
Marschflugkörper entscheidend. Frankreich verfügt hier über knapp 300 nukleare
Sprengköpfe. Diese bestehen aus ballistischen Raketen, die auf vier U-Boote
verteilt sind, sowie luftgestützten Marschflugkörpern.Die breiter gefächerten
Abschusssysteme und moderneren Sprengkörper verfügen dadurch über ein deutlich
höheres Abschreckungspotenzial als die amerikanischen Schwerkraftbomben.
Daneben verfolgen die USA und Frankreich auch sehr unterschiedliche
Nukleardoktrinen und Abschreckungsstrategien. Washington verfolgt eine
counterforce-Doktrin und eine deterrence by denial-Strategie (“Abschreckung
durch Verwehren”), Paris hingegen eine countervalue-Doktrin und eine deterrence
by punishment-Strategie (“Abschreckung durch Bestrafung”). Das bedeutet, dass
die USA in der Lage sein wollen, einen begrenzten Nuklearkrieg, mit
Nuklearwaffen geringer Sprengkraft sowie verschiedenen Mitteln zur
Neutralisierung gegnerischer Nuklearwaffen, führen zu können. Die Abschreckung
ergibt sich hierbei daraus, dass einem potentiellen Gegner signalisiert wird,
dass er keine militärischen Erfolge gegen die USA erzielen können wird, da diese
auf alles adäquat reagieren können und in einem konventionellen Konflikt
überlegen sind. Frankreichs Nukleardoktrin sieht hingegen vor, einem Angreifer
einen für ihn inakzeptablen Schaden zuzufügen. Das verdeutlicht auch, dass
Frankreich, anders als die USA, seine Nuklearwaffen als rein politische Waffe
verstanden hat. Es plant nicht dafür, einen Nuklearkrieg zu führen. Stattdessen
sind seine Nuklearwaffen die ultimative Drohung und dienen damit als
Versicherung seiner Sicherheit sowie seiner Handlungsfreiheit. Dass Frankreich
über ein kleineres und weniger vielfältiges Nukleararsenal verfügt, bedeutet
also nicht, dass seine Fähigkeit zur Abschreckung geringer ist, sondern im
Gegenteil, dass Frankreichs Strategie einzig und allein darauf abzielt, erst gar
keine Nuklearwaffen einsetzen zu müssen.