Veranstaltung: | JEF Bundeskongress 2022 |
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Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Bundesausschuss |
Beschlossen am: | 02.12.2022 |
Basierend auf: | IA6: Frontex an die kurze Leine nehmen: Für die Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle gegenüber Frontex. |
Frontex an die kurze Leine nehmen: Für die Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle gegenüber Frontex.
Beschlusstext
Oftmals mittellose Menschen, insbesondere Geflüchtete, sind an Europas
Außengrenzen auf sich selbst gestellt, wenn sie ungerechtfertigte Polizeigewalt,
illegale Push-Backs oder Schlimmeres wie vorsätzlich herbeigeführte Seenot
erfahren. Durch Menschenrechtsorganisationen ist nachgewiesen, dass es die EU-
Grenzschutz-Agentur Frontex selbst ist, die an illegalen Push-Backs beteiligt
ist bzw. davon Kenntnis hat, ohne rettend einzugreifen.
Dem steht das schnelle Wachstum und die stetige Ausweitung der Kompetenzen von
Frontex gegenüber[1]. Die Agentur wird mit Waffen, eigenen Schiffen,
Helikoptern, Drohnen und bis 2027 mit mehr als 10.000 Grenzschützer:innen
ausgestattet, während damit kaum ernstzunehmende Ermittlungs- und
Kontrollmechanismen einhergehen. Darin liegt ein Konstruktionsfehler, ein
Ungleichgewicht von Grenzschutz und Rechtsschutz.
Menschen an Europas Außengrenzen haben keine Möglichkeiten, Rechtsschutz zu
erhalten, da sie im Falle von Push-Backs sich nicht (mehr) auf europäischem
Boden befinden und so keinen Zugang zu unserem Rechtssystem haben.
Die einzigen bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten, ein Anrufen des Frontex-
Verwaltungsrat oder der Frontex-Menschenrechtsbeauftragten, sind unzureichend
und schaffen keine unabhängige Kontrolle. Beide sind agenturinterne Gremien ohne
demokratische Legitimation, die keine Entscheidungsgewalt haben und innerhalb
derer es nachweislich zu Verschleppungen und Vertuschungen von Ermittlungen
kommt. Frontex und die beteiligten Mitgliedstaaten (Entsendestaaten und
Gastgeberstaaten) decken sich bei unangenehmen Ermittlungen gegenseitig, indem -
teils systematisch - Informationen zurückgehalten werden. Zwar gibt es
zahlreiche an die Agentur selbst gerichtete Berichte über
Menschenrechtsverletzungen und zweifelhafte Methoden in ihren Tätigkeiten durch
Journalist:innen, NGOs oder sogar die Vereinten Nationen und den Europarat.
Jedoch wurden sie durch den Exekutivdirektor und damit den Chef des
Verwaltungsrates allesamt ignoriert und geleugnet[5].
Diese aktuelle Lage widerspricht der Vorstellung der JEF von einem Europa der
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, wie in 3.3. unseres politischen
Programms von 2021 formuliert.
Wir fordern daher die Einrichtung eines unabhängigen Kontroll- und
Ermittlungsgremiums (Ombudstelle). Dieses soll von der EU angemessen finanziert
sein, institutionell, hierarchisch und praktisch unabhängig sein von den
Beschuldigten, also Frontex selbst, ihren Beamt:innen sowie den Mitgliedstaaten
und deren entsandten Beamt:innen.
- Die Ombudsstelle soll parlamentarisch legitimiert sein und möglichst alle
Mitgliedstaaten abbilden. Zu den Vertreter:innen sollen zählen: NGO-
Vetreter:innen, Jurist:innen, Sozialarbeiter:innen und weitere
Expert:innen.
- Ihre Arbeit in Form von Überwachungen und Dokumentationen soll eine
verbindliche Grundlage dafür sein, um Menschenrechtsverletzungen zu
sanktionieren und die Straflosigkeit von Beamten zu verhindern. Konkret
sollen auf der einen Seite straf- und disziplinarrechtliche Verfahren in
den Mitgliedstaaten ermöglicht werden. Auf der anderen Seite soll das
Gremium helfen, beteiligte Mitgliedstaaten und die Agentur selbst
menschenrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, sei es vor dem EuGH oder
idealerweise vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR)[2].
- Dem Gremium soll ein verbindlicher Anspruch auf Information gegenüber
Frontex eingeräumt werden, der notfalls gerichtlich eingeklagt werden
kann.
- Auch muss die Einrichtung einer Anlaufstelle sichergestellt werden, die
bei Rechtsverletzungen an der Grenze auch von Nicht-Eu-Bürgern direkt
angerufen werden kann.
- Gleichzeitig soll die Arbeit des Gremiums dazu dienen, in der Gesellschaft
politische Verantwortung konkret zu benennen und Transparenz zu schaffen.
Frontex muss verpflichtet werden können, Dokumente von öffentlicher
Relevanz der Allgemeinheit zugänglich zu machen.
- Das Gremium soll unabhängig finanziert werden. Der Umfang der Finanzierung
muss angepasst werden an das Wachstum und die Aktivitäten von Frontex,
ohne aber institutionell von Frontex abhängig zu sein.
Ist das Gremium gegründet und hat es seine Arbeit aufgenommen, soll seine
Tätigkeit durch die Kommission und das Parlament evaluiert werden.
Der zukünftige Arbeitsauftrag für Frontex muss klar definiert sein: Es muss um
den Schutz von Menschen gehen, nicht um den Schutz von Grenzen.
[1] 2005 betrug der Etat 6 Mio. EUR. 2020 waren es 460 Mio. EUR.
[2] Hierfür müsste die EU sich der Gerichtsbarkeit des EGMR durch einen Beitritt
zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unterwerfen. Hierzu hat sich
die EU selbst im Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichtet.
Begründung
Frontex ist außer Kontrolle geraten. Bereits bevor der bisherige
Exekutivdirektor, Fabrice Leggeri, auf Druck des Europäischen Parlaments im
April 2022 seinen Platz räumen musste, war die Agentur erheblicher Kritik
ausgesetzt und wurde von mehreren Seiten zur Verantwortung gezogen.
So ermittelt seit einigen Monaten die Anti-Betrugs-Agentur OLAF gegen Frontex.
Auch verweigerte das Europäische Parlament kürzlich die Haushaltsentlastung für
das Jahr 2020, nachdem dies bereits 2019 in Teilen geschehen war. Außerdem
attestierte der Europäische Rechnungshof Frontex im Jahr 2020 “erhebliche
organisatorische Mängel” und schließlich werden schon seit November 2020 Beweise
gesammelt für die Verwicklung der Agentur in illegale Push-Backs und andere
Menschenrechtsverletzungen.
Das Europäische Parlament schöpft seitdem alle vorhandenen Instrumente der
finanziellen Rechenschaftspflicht aus. Es nimmt seine demokratische Kontrolle
wahr, um eine politische Verantwortung zu benennen.
Auch die Zivilgesellschaft benennt Verantwortlichkeiten für das Versagen. Medien
und NGOs berichten an die Öffentlichkeit und Politik als zurzeit wichtigste
Informationsquellen über die Außengrenzen. Allerdings haben ihre Berichte nicht
dasselbe Gewicht wie Informationen durch staatliche Stellen, ihnen wird häufig
eine gewisse Ideologie unterstellt. Dies lässt sich nur umgehen durch die
Schaffung einer unabhängigen Kontroll- und Ermittlungsstelle der EU.
Nun gilt es also, juristische Verantwortlichkeiten festzustellen und
menschenrechtswidriges Verhalten effektiv zu sanktionieren.