Die angestoßene Diskussion der JEF Heilbronn, Konstanz und Tübingen über die Legitimität des Europäischen Parlaments, dessen Arbeitsweise und Tagungsort begrüße ich: Das Parlament bildet das Herz und Zentrum der repräsentativen Demokratie. Es verdient zu Recht unsere Aufmerksamkeit. Im Bestreben, die antragstellenden Mitglieder der JEF Heilbronn, Konstanz und Tübingen zu unterstützen, die Debatte auch über den Buko hinaus auszuweiten und fortzusetzen, reiche ich diesen meinen Änderungsantrag ein.
Die Globalalternative zu IA1 "'Parlamentarier*innen-Pendeln' beenden" gilt hauptsächlich den Schlussfolgerungen und ihrer Begründung. Die Prämissen teile ich und übernehme sie bis auf marginale Korrekturen: die Geschichte der Verortung des EP in Brüssel, Luxemburg und Straßburg; die hohen Kosten der Pendelei für den EU-Haushalt sowie die ökologischen Lasten für die Natur; und die fragwürdige Zumutbarkeit dieses Aufwands für Parlamentarier*innen und Bürger*innen. Der angeblich alternativlosen Schlussfolgerung, wie sie in der Begründung des IA1 dargelegt ist, stelle ich meinen Änderungsantrag als Globalalternative entgegen. Damit möchte ich unsere Diskussion über die Arbeitsweise und Legitimität des Europäischen Parlaments öffnen: über die Berechnung der finanziellen Kosten und ökologischen Lasten hinaus auch für partizipatorische Erwägungen.
Zur Begründung und Verteidigung meines Vorschlags:
Ja, dieser Idee – EP fünf Jahre hier, fünf Jahre dort und fünf Jahre ganz woanders zu tagen – kann mensch leicht vorwerfen: irrwitzigen Wahnsinn. Denn sie könnte dazu führen, die institutionelle Architektur der EU für viele Bürger*innen und EU-Skeptizist*innen noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon ist. Mehr als bisher wirft mein Vorschlag die Frage auf, wen und wo man in Europa anrufen soll, wenn man mit der EU sprechen will. Dem Vorwurf kann und will ich mich nicht erwehren.
Ja, die EU ist kompliziert, sie kostet Geld, und Dreck machen sie, deren Parlament und ihre Mitglieder weiterhin. Mein Vorschlag vermag nicht, diesen Einwänden finanziell sowie ökologisch unmittelbar und unverzüglich entgegenzuwirken. Was ich vorschlage, ist: Die EU und das EP könnten aus dieser Not – der Notwendigkeit, sich vor den Bürger*innen und gegenüber ihren verschiedenen Interessen zu erklären – eine Tugend machen. Das EP könnte möglicherweise seinen Tagungsort ähnlich wie seine Arbeitsweise und Geschäftsordnung Legislaturperiode für Legislaturperiode ändern und revidieren: kraft der Parlamentsautonomie und dank des Zwangs zur Rechtfertigung vor den Unionsbürger*innen, die die Mitglieder ihrer Volksvertretung wählen oder abberufen. Das Europäische Parlament weiterhin als Reiseparlament zu konzipieren – nun an einem Ort, den aber nur für eine Legislaturperiode –, böte den Parlamentarier*innen und Bürger*innen Europas mehrere Chancen, u.a.:
- Die Parlamentarier*innen könnten einen ihrer Meinung nach geeigneten Ort unter mehreren Alternativen wählen; welcher Ort sich für die Arbeitsweise des EPs eignet, könnten die MdEP stets zeitgemäß und bestimmt besser als die Staats- und Regierungschefs einschätzen;
- der Tagungsort müsste nicht mehr mit dem Makel behaftet sein, bloß das kleinste gemeinsame Übel zu sein, auf das sich die Staats- und Regierungschefs in der Vergangenheit einigten;
- die Wahl des Tagungsortes könnte mehr mediale und politische Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Lebensweisen, Herausforderungen und Probleme der Städte und Regionen lenken;
- die Bewerbung als Tagungsort könnte den Städten und Regionen mehr Anreize und Gelegenheit bieten, sich (und ihre umgebenden ländlichen Räume) nachhaltig zu modernisieren: sowohl infrastrukturell und technisch als auch ökologisch und ökonomisch;
- die Wahl des Tagungsortes könnte helfen, den Bürger*innen Europas zu vermitteln, dass die EU und Europapolitik ihretwegen passieren und deshalb auch ihretwegen bei ihnen stattfinden; in der Folge könnte der von Legislaturperiode zu Legislaturperiode wechselnde Tagungsort der EU, dem EP und den MdEP zu tiefer erlebter Verankerung in ganz Europa verhelfen; schließlich könnten die Bürger*innen sich mehr mit EUropa identifizieren und die EU nachhaltiger legitimieren, indem sie mehr Vertrauen entgegenbringen und selbst regelmäßiger partizipieren.
Mit meinem Vorschlag möchte ich den Buko, seine Teilnehmer*innen und uns JEFer*innen anregen, unsere Diskussion über die Forderung – den Tagungsort des EPs zu ändern, das EP im institutionellen Dreieck zu stärken und für die Bürger*innen nachhaltig zu legitimieren – auch aus der Perspektive der politischen In- und Throughput-Legitimität – Partizipation und Verfahrensgerechtigkeit – zu erörtern. Dieser multi-perspektivische Ansatz regt möglicherweise mehr JEF-Mitglieder an, sich aktiv und kreativ in unsere Debatte einzubringen. Er gibt möglicherweise auch Gelegenheit, den Beitrag und die Beteiligung der Städte und Regionen in EUropa stärker zu beachten. Schließlich zeigt die hiesige Antragsdiskussion durchaus verschiedene Präferenzen für geeignete Tagungsorte. Möglicherweise kann diese Globalalternative als Kompromiss zwischen den widerstreitenden Interessen vermitteln.
Zu einzelnen Fragen im Detail:
1.) Wie könnten das Generalsekretariat des EP und das EP selbst an verschiedenen Orten tagen? Es gibt Internet, Post, Telefon und Verkehrsmittel, um zwischen Tagungsort (Brüssel oder Straßburg oder X oder Y oder Z) einer- und andererseits dem Generalsekretariat zu kommunizieren. Pendeln tun die EP-Abgeordneten sowieso weiterhin: zwar nicht mehr zwischen Tagungsort A und Tagungsort B (bspw. Brüssel und Straßburg), aber weiterhin zwischen EP-Tagungsort und ihren Wahlkreisen sowie Heimatregionen.
2.) Warum soll das Generalsekretariat jedenfalls in Brüssel sitzen? Weil es als Ansprechpartner*in für Kommission und Ministerräte sowie CoRePer leicht und schnell zugänglich sein soll.
3.) Warum könnte man den Tagungsort des EPs Legislaturperiode für Legislaturperiode umdisponieren wollen? Um allen Bürger*innen zu vermitteln, sie alle könnten in der Hauptstadt Europas leben; um ihnen stärker zu vermitteln, dass EU und Europapolitik nicht fern sind, sondern ihretwegen – wegen der Menschen in Europa – passieren; um Europapolitik und nationale Politiken, EU und Europa, EP und Unionsbürger*innen stärker miteinander zu verzahnen; um EP und EU stärker demokratisch zu legitimieren: auf der Input- und Throughput-Seite durch Partizipation und Verfahren, mindestens jenes des Wettbewerbs für die Wahl des EP-Tagungsortes für eine Legislaturperiode.
4.) Wer könnte über den Tagungsort des EPs abstimmen? Die Abgeordneten des EP könnten kraft und zwecks ihrer Parlamentsautonomie über die Stätte ihrer Versammlungen für die jeweils kommende Legislaturperiode abstimmen. Das Generalsekretariat könnte vorher den Wettbewerb ausschreiben und prüfen, welche Städte als Kandidatinnen in die engere Auswahl kommen, da sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen: insbesondere solche der finanziellen, logistischen und ökologischen Nachhaltigkeit und u.a. des Schutzes der Bauarbeiter*innen, Bürger*innen sowie Parlamentarier*innen.
5.) Was könnte mit dem EP in Brüssel und Straßburg geschehen? Man könnte Brüssel, wie die Antragsteller*innen aus Baden-Württemberg vorschlagen, weiterhin als primären oder alternativen Tagungsort des EP nutzen, wenn das EP sich nicht auf eine andere Bewerberstadt einigen konnte oder wenn das Brüsseler EP für manche Zwecke nach wie vor besser geeignet ist. Das Straßburger EP könnte man umfunktionieren: bspw. für andere Tagungen, etwa Parlamentssimulationen mit Jugendlichen und Forscher*innen, oder für die Europäische Agentur für politische Bildung, deren Gründung wir aufm BA in diesem Jahr gefordert haben. Straßburg als Ort der Wissenschaft, als historischer Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich bis vor über 80 Jahren und als Ort der Versöhnung und des Friedens in Europa böte sich möglicherweise dafür gut an.
6.) Warum könnten wir sowohl Städte als auch Regionen als Bewerber*innen zulassen wollen? Einige Regionen in Europa sind derart stark urbanisiert, dermaßen dicht vernetzt sowie politisch und sozial verflochten, dass sie Metropolregionen darstellen. Für diese könnte sinnvoll sein, sie als gemeinsame Bewerber*innen für die Austragung des EPs zuzulassen. Beispielhaft kommen mir neben Brüssel folgende Metropolregionen in Europa in den Sinn: Barcelona, Randstat und u.a. Rhein-Neckar.
7.) Beziehe ich mich auf was als Vorbild mit meinem Änderungsantrag? Ja, auf die Wahl der Kulturhauptstadt Europas und auf die Vergabe diverser Austragungsorte für Sportwettbewerbe.
8.) Wie könnte man Bestechung, Korruption und ökologisch langfristig ruinösen Tagungsstätten zuvorkommen, die hin und wieder bei öffentlichen Ausschreibungen vorkommen? Man könnte auf Nachhaltigkeit und Transparenz bei der Ausschreibung, Evaluation und Vergabe achten; ausgeschlossen bleiben Fehlentscheidungen, Ruinen und Umweltverschmutzung leider nicht. Das ist nunmal der Preis der Freiheit: Böses zu tun, Irrtümern zu erliegen oder Schaden anzurichten. In der Demokratie, in der offenen Gesellschaft und im Rechtsstaat könnte man diese fehler- oder sogar schuldhaften Entscheidungen aber öffentlich machen, kritisieren und revidieren – und die betreffenden Politiker*innen zur Rechenschaft ziehen oder wahlweise abberufen.
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